DIE FLÜGEL AUSBREITEN IN DER WILDNIS
von Alfred Kwasny
04.30 Uhr, Basecamp am Zirbitzkogel auf 1800 m Seehöhe in den Seetaler Alpen. Eine Sturm- und Gewitternacht. Die jungen Visionssucher*innen schlafen noch unruhig in ihren Schlafsäcken. Langsam wird es hell am Horizont, das Wetter hat sich beruhigt.
Die Teilnehmer*innen haben ihre Entscheidung zu diesem großen Übergangsritual schon vor einigen Wochen getroffen, manchmal kann ich darüber nur staunen! 10 Tage in der Wildnis, 3 Tage und Nächte allein, fastend.
Die Ceremony ruft. Eine große Sehnsucht bringt uns zusammen, ein Wissen der Seele, dass ein Übergang Zeit und Verbindung mit der Natur braucht, um sinn- und lebensstiftend zu sein. Die meisten Kulturen wussten zu allen Zeiten um die Bedeutung von Begleitung und Ritualen, um jungen Menschen einen Übergang in ihr erwachsenes Leben zu ermöglichen. Wir feiern Veränderung, wir feiern Ceremony, wir feiern Visionssuche, damit das Leben kraft- und freudvoll weitergehen kann.
Die Sonne wird gleich aufgehen. Wir Guides singen das Visionslied zum guten Morgen. Nachdem auch noch die letzten Dinge in den Rucksäcken verstaut sind, kommen wir zum Abschied im Kreis zusammen. Aufgeregte Gesichter, Abschied von der Gemeinschaft, den Menschen, die wir so gut kennenlernen durften, deren Geschichten uns so berührt haben.
Vier gemeinsame Tage liegen schon hinter uns, die Vorbereitungszeit. Du kommst mit großen Fragen: Wer bin ich wirklich? Worauf kann ich mich verlassen, wie meinen Platz finden in dieser unsicheren Welt? Was ist wirklich wichtig, was trägt mich? Wofür übernehme ich Verantwortung? Was erfüllt mich, macht mir wirklich Freude?
Das Land ist unser Lehrer, die Gruppe ein mitfühlender Spiegel. Tief schauen, was aus dir wachsen möchte, in der Wildnis, im Gestalten, im Tanz, im Ritual. Wir gehen gemeinsam durch alle Richtungen des Medizinrads – alle deine Seiten sind willkommen! Es gab schon viel loszulassen und neu hereinzurufen; sich zeigen, Trauer, Tränen, Freude, Kraft… – und tatsächlich auch unglaublich viel Humor und Spaß!
Nun ist es so weit, jede*r spricht noch einmal den eigenen Bestimmungssatz:
„Ich bin eine warmherzige, starke Frau, die mutig ihren Weg geht, und Grenzen setzt!“
„Ich bin ein Mensch der Natur, der über den eigenen Schatten springt, um anderen darüber zu helfen.“
„Ich bin ein Mann, der für sich und andere einsteht, sein Herz spricht und gehört wird!“
Im Kreis geräuchert und verabschiedet, gehen die Visionssucher*innen hinaus Über die Almwiesen, im Wald, hinter den Felsen sehen wir sie verschwinden. Wir Guides werden in den nächsten Tagen und Nächten einen sicheren Raum halten. Am dritten Morgen erwarten wir sie heil und neu zurück, um unglaubliche Medizingeschichten zu hören, zu spiegeln, zu integrieren und zu feiern! – May they walk in beauty!
Szenenwechsel. Busbahnhof Opatija Kroatien. Acht strahlende junge Leute im Alter zwischen 15 und 17 steigen aus dem Bus. Einige kennen wir bereits, sie haben mit uns ihre Übergangsrituale ins junge Erwachsenenalter bei der „Wilde Zeit“ oder am „Weg der jungen Männer“ gemacht. Es ist ein herzliches Wiedersehen. Die „Helden-Reise“ mit ihrem dringenden Ruf hinaus aus dem Alltag hat schon begonnen. Es gab auch schon viel Widerstand und noch mehr Ringen – Corona hat es uns nicht leicht gemacht und bis zuletzt war unklar, wie, wer und ob überhaupt.
„Wer ist mein Stamm, wer sind meine Leute?“, ist eine der Fragen, mit der sich die Jungen auf den Weg gemacht haben, zuerst allein aus allen Landesecken und jetzt schon als „Tribe“, zum gemeinsamen Abenteuer in der Wildnis.
„Spread Your Wings“ – die Ingredienzien für dieses Abenteuer sind das wilde Land überm (und am) Meer, Geschichten am Feuer und rund ums Medizinrad, dich erfahren in allen Richtungen, viel wagen, tief schauen, dich zeigen und gesehen werden, Verbundenheit mit der Gemeinschaft, den Elementen, dem wilden kreativen Leben in dir.
Im Laufe der Woche werden wir uns von der Wildnis inspirieren lassen, aus den eigenen Wurzeln schöpferisch werden. Improtheater, Malen, Schreiben, Tanzen, Singen, Clownen, Masken und Kraftgegenstände bauen. Du wirst eine Zeit alleine über der Schwelle verbringen und schließlich im rituellen Theater performen und auf die Bühne bringen, was du gefunden hast, wer du bist und wirst, deine Flügel spannen, dein Gefieder zeigen, losfliegen. Geschenke, Stärken, Mut, neue Qualitäten.
Was in deinem Alltag und in unserer Kultur verborgen bleibt, darf sichtbar werden. Vielleicht liegt deine wahre Stärke ganz woanders, als du vermutet hast, ist unangepasst, verletzlich, wildkreativ… Überrasch dich ruhig selbst: „Das bin ich auch?“
„Danke, dass ihr mir das Fliegen beigebracht habt“, ist ein Feedback, das wir nach der Woche bekommen. – Danke, dass ich euch staunend fliegen sehen darf! Diese jungen Leute sind Medizin für mich, füreinander und für diesen Planeten!
Veröffentlicht in Die Spinnerinnen
Text und Fotos: Alfred Kwasny
www.wildwege.at